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Die Jahrtausendlast der Freundschaftsbriefe

Freundschaft ist eine sehr alte Beziehungsform, älter vermutlich als die Geschichte, älter als die Schrift. Das lässt sich etwa daran erkennen, dass in uralten Mythen, die aus mündlichen Überlieferungen stammen, Freundschaft genauso eine Rolle spielt wie in den Gesellschaften ohne Schrift, die von Ethnologen im 19. und 20. Jahrhundert untersucht wurden. Aber was ist Freundschaft eigentlich? In den Freundschaftsschwüren, die von dem berühmten Ethnologen Edward Evan Evans-Pritchard in den 1930er-Jahren bei den zentralafrikanischen Azande aufgezeichnet wurden, erscheint sie als ein lebenslanger Pakt, der starke Verpflichtungen zum wechselseitigen Schutz vor Gewalt und zur materiellen Unterstützung mit sich bringt. Freunde sind hier, knapp ausgedrückt, Menschen, auf die man sich in der Not verlassen können muss. Das schwor man sich wechselseitig im Blut.

Der Sinn von Freundschaftsritualen liegt jedoch nicht unbedingt in der Art und Weise, wie man sie ausführt. Das wirkt manchmal so, weil sie etwas Magisches an sich haben. Aber die Magie liegt im Fall der Freundschaft nicht in der richtigen Ausführung, sondern in der inneren Logik des Rituals. Das Blut, das beide Freunde in sich aufnehmen, spricht von innen zu ihnen. Es erinnert die Freunde an ihre Schwüre: Dass sie die Speere schulden, um den Freund zu schützen, dass kein Wort des Verrats über die eigenen Lippen kommt, dass man die Speisen mit ihm teilt. Das Blut des Freundes wohnt im Freund und es wird wütend, wenn einer auch nur daran denkt, die Freundestreue zu brechen.

Dr. Janosch Schobin
Soziologe am Kompetenznetz Einsamkeit des Instituts für Sozialarbeit und Sozialpädagogik e.V. in Frankfurt am Main

Und darin liegt die Hauptsache des Freundschaftsrituals: Dass wir einen Ausdruck für uns finden, den ein anderer verinnerlichen kann. Die Antike, aber auch das Mittelalter hatten dafür nicht zuletzt ihre Tauschrituale und Freundschaftsschwüre. In der frühen Neuzeit fanden gebildete Menschen wie Michel de Montaigne andere Wege: Eine der größten Innovationen in der Geschichte der Freundschaft ist der Freundschaftsbrief. Den tauschen die Freunde, wie Azande das Blut, mit ähnlichem Effekt. Im Freundschaftsbrief artikuliert sich Montaignes ewige Formel der Freundschaft, die seinem Freund Étienne de La Boétie gewidmet ist: „Weil er er war, weil ich ich war“. In der Renaissance und später noch ausdrücklicher in der Spätaufklärung entstand mit dem Freundschaftsbrief eine neue Form, dem Selbst Ausdruck zu geben. Im Brief kann man sich ganz öffnen und die Gedanken und Gefühle, die er fasst, warten darauf, eine Stimme im Freund oder der Freundin entstehen zu lassen, die in ihm oder ihr leben kann.

Dr. Janosch Schobin
Soziologe am Kompetenznetz Einsamkeit des Instituts für Sozialarbeit und Sozialpädagogik e.V. in Frankfurt am Main