Die Handschrift als Manifestation der Gedankenfreiheit
Gedanken sind frei, Worte aber nur bedingt. Erst in verbalisierter oder verschriftlichter Form entfalten Gedanken ihre Macht: „Am Anfang war das Wort.“ Schriften sind Zeichensysteme zum Vermitteln von Wissen und Botschaften. Schriftliche Kommunikation erfordert die Lese- und die Schreibfähigkeit. Die Entwicklung beider Fähigkeiten wird als Schriftspracherwerb bezeichnet. Dieser Begriff umfasst die technische, die ästhetische und die soziale Dimension schriftsprachlicher Handlungskompetenz.
Im Gegensatz zum reinen Spracherwerb, der früh aus eigenem Antrieb erfolgt, ist der Schriftspracherwerb ein begleiteter Entwicklungs- und Lernprozess. Dabei stellt das Schreiben per Hand als Umwandlung von Buchstaben und Lauten in Handbewegungen eine kognitive und feinmotorische Herausforderung dar. Deshalb besteht das Schreibtraining aus drei Phasen: dem Abschreiben von Buchstaben, dem Rechtschreiben, das heißt der korrekten Schreibung von Wörtern und Sätzen, und dem Textschreiben als kreativer Akt.
Die Lese- und Schreibfähigkeit ist die Grundvoraussetzung für alle Bildungsprozesse und – da moderne Gesellschaften in weiten Teilen auf Texten basieren – für die soziale Teilhabe. Insofern stärkt der Schriftspracherwerb die persönliche Freiheit, deren visueller Ausdruck die Handschrift ist. Zwar folgt das Schreibenlernen bestimmten Schemata – alle Schülerinnen und Schüler erlernen dieselben Buchstaben und führen dieselben Schwungübungen aus –, aber die durch die Hand erzeugte Schrift ist individuell höchst unterschiedlich und gilt als Ausdruck der Persönlichkeit.

Lutz Roschker
Vorstand der PwC-Stiftung
Deshalb gehörte ein handgeschriebener Lebenslauf jahrzehntelang zu einer Bewerbung und sind allein handschriftlich verfasste Testamente gültig. Was die Handschrift tatsächlich über die Persönlichkeit aussagt, ist umstritten. Unbestritten ist jedoch, dass ein handgeschriebener Gruß – gerade im digitalen Zeitalter – als besonders persönlich gilt. Dass Handschrift indes kein Synonym für Schönschrift ist, hatte schon US-Präsident John Adams erkannt: „Das Einzige, was die meisten Menschen besser können als alle anderen, ist ihre eigene Handschrift zu lesen.“
Ob leserlich oder nicht: Das Schreiben per Hand verbessert die sensomotorischen Prozesse, erhöht die Merkfähigkeit für das Geschriebene und erleichtert das Lernen. Deshalb sollte diese Schreibfähigkeit in der Schule verstärkt trainiert werden. Auch hier kann die Digitalisierung helfen, etwa durch Software, die die Schreibfähigkeit von Schülerinnen und Schülern analysiert und ihnen Übungen vorschlägt. Das reicht jedoch nicht, um die Lust am Handschreiben zu wecken. Dazu bedarf es schülergerechter Initiativen, die zu einem kreativen „Texten“ per Hand einladen. Gerne unterstützen wir deshalb den Tag der Handschrift.
Lutz Roschker
Vorstand der PwC-Stiftung